- Literaturnobelpreis 1950: Bertrand Russell
- Literaturnobelpreis 1950: Bertrand RussellDer Brite erhielt den Nobelpreis für »seine vielseitigen und bedeutenden Werke, mit denen er als Vorkämpfer von Humanität und Gedankenfreiheit hervortritt«.Lord Bertrand Arthur William Russell, * Trelleck (Wales) 18. 5. 1872, ✝ Plas Penrhyn (Wales) 2. 2. 1970; 1890-94 Studium der Mathematik an der University of Cambridge (England), 1895-1901 Fellow am Trinity College, Cambridge, 1910-16 Lecturer, 1910-13 Veröffentlichung seines Hauptwerks »Principia Mathematica«, 1916 Gefängnisstrafe wegen der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern, nach dem Ersten Weltkrieg freier Schriftsteller.Würdigung der preisgekrönten LeistungIn seiner Autobiografie schrieb Russell: »Ich habe den Nobelpreis, ein bisschen zu meinem Verwundern, für meine schriftstellerische Leistung erhalten.« Er war nicht in erster Linie Schriftsteller, sondern Wissenschaftler auf vielen Gebieten, daneben Politiker und nur am Rande auch Literat.Liebe, Erkenntnis und MitgefühlIn der Begründung der Schwedischen Akademie hieß es, Russells Philosophie erfülle die Wünsche und Intentionen, die Nobel bei der Einrichtung des Preises hegte. Russell sei — wie Nobel — Skeptiker, Utopist und Moralist. Eben die moralische Kraft in Russells Werken und Taten hob die Begründung hervor. Gleichzeitig wurde er als »einer der größten und einflussreichsten Denker unserer Zeit« geehrt. Auch sein politisches Engagement, für das er auf vielfältige Weise bestraft wurde, würdigte das Nobelkomitee ausdrücklich. Dagegen blieben seine literarischen Qualitäten unerwähnt.Russells 1967 entstandene Autobiografie beginnt mit den Worten: »Drei einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.« Und tatsächlich bestimmten diese drei Leidenschaften sein ganzes, fast 100-jähriges Leben.Betrand Russell wurde 1872 in ein altes Adelsgeschlecht geboren. Als er zwei Jahre alt war, starben seine Mutter und seine Schwester an Diphtherie. Der Vater, ein liberal denkender Mann, der sich ebenso wie Russells Mutter für das Frauenwahlrecht und die Geburtenkontrolle einsetzte, weswegen er seinen Parlamentssitz verlor, folgte ihnen 18 Monate später in den Tod. So wurden Bertrand und sein älterer Bruder Frank von den Großeltern väterlicherseits auf Pembroke Lodge erzogen, einem Anwesen mit einem verwilderten Park, dessen weiter Horizont und Einsamkeit ihn sein ganzes Leben lang prägen sollten. Auch Russells Großmutter hatte entscheidenden Einfluss auf seine Kindheit und nahm ihm die Angst, sich durch unpopuläre Geisteshaltungen in eine Außenseiterposition zu begeben. Trotzdem war Russells Kindheit unglücklich. Wie er später bemerkte, bewahrten ihn nur die Natur, die Bücher und die Mathematik vor der völligen Verzweiflung. Als größtes Ereignis seines Lebens bezeichnete Russell die Entdeckung Euklids im Alter von elf Jahren: »atemberaubend, wie die erste Liebe.«1890 ging er als Student nach Cambridge, das er später als seine eigentliche Heimat ansah. Hier traf er auf die geistige Elite jener Zeit, aus der viele seiner langjährigen Freundschaften hervorgingen. Den akademischen Betrieb schätzte Russell jedoch nicht sehr und verbrachte seine Zeit lieber mit Freunden und philosophischen Diskussionen. Er beendete sein Studium der Mathematik mit einer Dissertation über die Grundlagen der Geometrie. Auf einer Wanderung lernte Russell eine amerikanische Quäkerfamilie kennen, in deren Tochter Alys, eine fünf Jahre ältere Studentin, er sich augenblicklich verliebte. Die Ehe mit ihr war nur in den ersten Jahren glücklich und scheint auch daran gescheitert zu sein, dass Russell sich sehnlichst Kinder wünschte, Alys aber unfruchtbar war. Russell heiratete drei weitere Male. Aus der zweiten und dritten Ehe gingen Kinder hervor, aber erst mit seiner vierten Ehefrau, die er im Alter von 80 Jahren heiratete, wurde er glücklich.1902 beendete er ein rund 500 Seiten umfassendes Manuskript über die »Grundlagen der Mathematik«. Zwei Jahre zuvor hatte er »Eine kritische Darlegung der Philosophie von Leibniz« veröffentlicht, in der er sich mit der Identität des Ununterscheidbaren, den Prinzipien der Dynamik, Gottesbeweisen, Ethik und anderem beschäftigt. 1905 begann er gemeinsam mit Alfred North Whitehead die Arbeit an den »Principia Mathematica«, einem dreibändigen, schwer verständlichen Buch, das als Grundlagenwerk der modernen Mathematik gilt. Die Arbeit ging so an die Grenzen seiner geistigen und körperlichen Kräfte, dass er zeitweise Selbstmordgedanken hegte.Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte Russell nach eigenem Bekunden stark. Als leidenschaftlicher Pazifist war er über die Kriegsbegeisterung einiger seiner Freunde tief enttäuscht. Bei Kriegsbeginn hatte er — als höre er eine Stimme Gottes — das Gefühl, eine Verantwortung für die Menschen zu tragen. Verzweifelt bat er denamerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (Friedensnobelpreis 1919) in einem in vielen Tageszeitungen abgedruckten, offenen Brief um Beendigung des Kriegs. Auf einer Versammlung in London wurde er als deutscher Spion verdächtigt und entging nur knapp der Lynchjustiz. 1916 verurteilte man ihn wegen seines Einsatzes für Kriegsdienstverweigerer zu sechs Monaten Gefängnis.Im Angesicht der Hitler-Diktatur revidierte Russell zwar seinen grundsätzlichen Pazifismus, trat aber weiterhin gegen jegliche Grausamkeit und Ungerechtigkeit ein: gegen die Greueltaten Hitlers wie die Stalins, gegen den fanatischen Antikommunismus, gegen den Atomkrieg und den amerikanischen Einsatz in Vietnam. Er unternahm ausgedehnte Vortragsreisen nach China, Russland, Japan, Australien und Amerika. Unermüdlich verfasste er Schriften, hielt Reden und versuchte Geldmittel aufzutreiben. Sogar das Erbe seiner Großmutter vermachte er bedürftigen Menschen und Hilfsorganisationen. Daher musste er seinen Unterhalt durch literarische Arbeiten bestreiten.Russell traf in seinem Leben stets auf Hindernisse. Lob und Ehre kamen — in Form des höchsten englischen Ordens und des Literaturnobelpreises — spät. Nur die Einsamkeit begleitete ihn bis zum Schluss: »Wir stehen am Ufer eines Ozeans und schreien in die leere Nacht hinaus; zuweilen antwortet eine Stimme aus dem Dunkel. Aber es ist die Stimme eines Ertrinkenden, und im nächsten Augenblick kehrt das Schweigen wieder.«Heute zählt Russell zweifellos zu den bedeutendsten und bekanntesten englischen Philosophen. Auch seine mathematischen und wissenschaftlichen Gedanken wirken noch fort. Als Schriftsteller werden ihn nur wenige einordnen, eher als Moralisten, Sozialisten und Politiker. »Wir haben jetzt in der menschlichen Geschichte das Stadium erreicht, in dem zum ersten Mal das Fortbestehen des Menschengeschlechts davon abhängt, wieweit Menschen lernen können, sich sittlichen Überlegungen zu beugen.« Russells Appell an die praktische Vernunft der Menschen hat heute mehr denn je Gültigkeit.B. Rehbein
Universal-Lexikon. 2012.